Meine Generation erlebte noch jene Zeit, als Photographie der Magie glich. In der Dunkelkammer, in den rötlichen Schimmer einer Speziallampe getaucht, mischten die Eingeweihten geheimnisvolle Lösungen in bauchigen Gefäßen, deren Rezeptur, wie in einem Geheimbund, vom Meister an den Schüler weitergegeben wurde, sie zauberten über Schalen, in denen nasses, rechteckiges Papier schwamm, wie einst die Schamanen mit ihrer „Wachsgießerei”, vertieften sich dabei in die Gesichter, die an der Wasseroberfläche auftauchten, und an der Tür erhielten die Nichteingeweihten einen raschelnden schwarzen Umschlag mit den Abzügen, sie öffneten ihn und blickten mit angehaltenem Atem hinein, was da „entwickelt” worden war …

Bilder konnten gelingen oder auch nicht, die Meister (und so nannte man sie tatsächlich in der Sprache der mittelalterlichen Zünfte), denen die Bilder immer gelangen, konnten sich vor Auftraggebern kaum retten, jeder wollte ein möglichst ansehnliches und schönes Bild für die Ewigkeit hinterlassen (vor vierzig Jahren glaubte man noch an eine „säkulare Ewigkeit”!). Den größten Meistern der Zunft vertraute man die sakralen Abbildungen und Portraits des Hofstaats an. Oder anders, mit den Worten jener Epoche gesagt, die visuelle Agitation und Propaganda. Die Bildkorrespondenten der Parteizeitungen waren für gewöhnlich echte Meister ihres Faches.

Das Archiv einer Provinzzeitung, das von Burkhard von Harder gerettet wurde, stellt eine Sensation dar – nicht nur für die Ukraine. Wir sind das „Land der vernichteten Archive” (Burkhard von Harder selbst, der mein „Museum der vergessenen Geheimnisse” gelesen hat, wäre gern etwas optimistischer), und man kann nicht einmal mehr zählen, wie viele solcher Archive seinerzeit auf dem Müllhaufen landeten, mit ihnen ist ein ganzer historischer Kontinent untergegangen – ein schwarz-weißes Atlantis mit seinem Kulturkode, den auch die Zeitgenossen bereits zu vergessen beginnen... Die Namen lassen sich nicht wiederherstellen, weder von denen auf den Fotos noch von dem (oder denen) mit dem Fotoapparat. Für Fotos in der Parteizeitung wurden natürlich nur ausgewählte, auf sowjetische Art erfolgreiche Leute genommen, Fabrikvorstände, Orden behängte Veteranen, Vertreter der kulturellen und militärischen Elite... Die Mehrheit dieser Fotos sind nach dem einen und einzigen UdSSR-Kanon inszeniert: Handelt es sich um Arbeiter, dann als Kumpel in der Grube neben einem Förderwagen oder im „Lenin-Zimmer” in einer Debatte über den neuesten Leitartikel der Parteizeitung vertieft, handelt es sich jedoch um Landarbeiter – dann auf dem Feld neben einem Traktor (die Variante für Frauen – im Stall mit Kälbern, Kaninchen oder anderen fotogenen Tierchen), die Durchschnittstemperatur solcher Fotos ist lau, weder heiß noch kalt. Die Erwachsenen werfen sich dabei besser in Pose als die Kinder. Der angespannte Ernst der Kleinen fällt in der Masse umso mehr dort ins Auge, wo sie an offiziellen Ritualen teilnehmen wie der Einschulung, einer Parade, der Ehrenwache an einem Denkmal … Doch die mittelalterlichen Meister arbeiteten auch im Rahmen eines alt ehrwürdigen Kanons, was uns heute jedoch nicht daran hindert, unter den Hunderten von „Golgathas”, „Letzten Abendmalen” und „Gebeten im Garten Gethsemane” den Pinselstrich der wahren Meister zweifelsfrei zu erkennen. Und Burkhard von Harder spürt untrüglich diesen Blick des Künstlers, der in jenen Bildern fixiert ist.

Es überrascht wie lebendig diese Aufnahmen sind und einen geradezu körperlich berühren, trotz ihrer Zugehörigkeit zum Kanon und trotz der sichtbaren, wenn auch halbwegs nivellierten Erbärmlichkeit der ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeit. Burkhard von Harder bemerkte an ihnen jenes, das wir bisher nicht wahrgenommen hatten, die wir von Kindesbeinen an von visueller Agitation und Propaganda umgeben waren (man kann sich leicht vorstellen, was man von dem hartnäckigen Deutschen im Stadtmuseum dachte – komischer Kauz, aber nimm es ruhig, wenn’s dich glücklich macht!).

Auf diesen Bildern findet sich Schönheit und Trauer. Darauf sind Menschen, lebendig und unverwechselbar, die schön und zugleich wie schutzlos vor dem Röntgenblick des Künstlers scheinen. Und dieser Künstler ist namenlos wie im Mittelalter. Ein Meister, den Burkhard von Harder aus der Dunkelkammer führt und vor uns hinstellt.

Vor dem Hintergrund der „Auftragsfotos” wirken die aus eigenem Interesse „geknipsten” Aufnahmen intim, geradezu wie die Seiten eines fremden Tagebuchs, hier – als blickte man auf eine Tischgemeinschaft im Stile der „Kartoffelesser” van Goghs , dort – das eingefangene Spiel von Licht und Schatten auf der Schreibtischplatte, eine Übung, ein Experiment … fehlgeschlagen … und da wieder, unerwartet, fotografische Spickzettel, der traditionelle Nebenverdienst damaliger Fotografen (eine andere Kopiertechnik hatte das normale Sowjetvolk nicht zur Verfügung): so hat einer hintenherum einen Zuverdienst, aber unwillkürlich denkt man beunruhigt, ”Hat man ihn geschnappt? Weil, immerhin, er ist beim Parteiorgan, wenn man’s rauskriegt, dann wird’s ungemütlich für ihn...”

So lässt sich dieses Projekt Bild für Bild „lesen”, wie ein Hypertext (oder Hyperfilm?) mit zahllosen Verflechtungen. Ich weiß nicht, wie es die nächste Generation lesen wird, für welche die Fotografie eher ein Kommunikationsmittel darstellt (mit dem Handy etwas geknipst und im sozialen Netzwerk gepostet...). Doch ich bin sicher, dass auch sie noch den Atem der magischen Dunkelkammer spürt, in der man ganz ernst an die Ewigkeit dachte. Und da – sei es nur für einen Moment – drängt sich jene beunruhigende Frage ins Bewusstsein, ohne die weder Kultur noch Geschichte existieren würden: was bleibt von uns?..

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Alexander Kratochvil